Die Kapelle

Als Kinder sind wir gerne auf den Feldberg gegangen und haben dort im Wald gespielt. Oben befand sich eine Kapelle, die immer verschlossen war. Meine Mutter hatte den Schlüssel dazu, weil sie vertrauenswürdig war. Ich habe so manche fromme Frauen gesehen, die bei uns den Schüssel holten, um dort zu beten. Der Weg zur Kapelle war etwas beschwerlich. Man brauchte schon etwas Puste, wenn es steil bergauf ging. Mit dem Trecker war es bequemer, wenn auch manchmal abenteuerlich, wenn die Räder durchdrehten. Ich erinnere mich gut daran, dass die Kapelle einen eigentümlichen Geruch und Flair ausstrahlte, wenn wir durch das vergitterte Fensterchen neben der schweren Eingangstür ins Innere schauten. Gläubige sprachen ein kurzes Gebet durch dieses Fensterchen. Wir verkürzten es auf ein deutlich hörbares Hallo, das im Inneren der Kapelle widerhallte. Ob das der liebe Gott auch gehört hatte, konnten wir nicht in Erfahrung bringen. Jedenfalls ist danach kein Blitz vom Himmel gefahren. So schlimm konnte es also nicht gewesen sein, frei nach den Worten von Jesus: „Lasset die Kindlein zu mir kommen.“

Die Momente beim Blick durch dieses Fensterchen erzeugten eine eigenartige Stimmung, die mir in Erinnerung geblieben ist. Das Innere der Kapelle strömte Ewigkeit und Himmel zugleich aus. Wer das noch nie erlebt hat, wird das für Spinnerei halten. Aber es gibt wirklich heilige Orte, die das menschliche Denken übersteigen. Ich bin davon überzeugt, dass es solche Phänomene auch in anderen Religionen gibt, so verschieden sie auch sein mögen. Auch unsere steinzeitlichen Vorfahren müssen diese Erfahrung in den Höhlen mit den imposanten Zeichnungen gemacht haben. Interessant ist, das man dort keine Gottesabbildungen oder was man davon hält, gefunden hat, was mich zu dem Schluss bringt, dass solche Abbildungen erst ein sehr rezentes Kennzeichen von Religionen sind. Im Judentum und Islam wird konsequent auf solche Darstellungen verzichtet.

In Europa von heute wird das Christentum immer weiter in den Hintergrund geschoben, was systematisch durch die moderne säkularen Verfassungen geschieht. Wie man auch dazu steht, es geht dadurch etwas typisch Menschliches verloren. Die Ursachen der Säkularisation liegen auch in dem totalen Versagen der Kirchen in der Arbeiterfrage des 19. Jahrhundert, die von den Kirchen mittels Almosen gelöst werden sollte, ein völlig nutzloses Mittel. Das hat den Weg bereitet zum Kommunismus und auch Faschismus, inklusive Rassismus. Das sehe ich ganz deutlich.

Zu meinen Lebzeiten ist dann noch der moralische Zerfall der katholischen Kirche mit ihren päderastischen Priestern dazugekommen, die von den verantwortlichen Bischöfen vertuscht wurden, oder selber diese verwerflichen und kriminellen Handlungen an Knaben vorgenommen haben. Dieses Problem wurde genauso wenig gelöst wie die Arbeiterfrage vorher. Das deutet auf kein gutes Ende mit dieser Kirche hin.

Bei den Prostestanten ergibt sich ein anderes Bild. Sie vertreten Lehrmeinungen, die ich nicht in den Evangelien oder den Briefen des Paulus wiederfinden kann. Oder bin ich zu blöd dazu. Auch diese Kirche befindet sich in einer tiefen Sinnkrise. Massentauglich ist sie auf keinen Fall. Ihre Anbiederung an den säkularen Zeitgeist ist so offensichtlich, bringt ihr aber keine neuen Anhänger. Im Gegenteil ist die Flucht aus dieser Kirche noch größer als bei dem Katholiken.

Die Welt, in der ich groß geworden bin mit ihrer Frömmigkeit, existiert nur noch in Spuren. Fragt man die Jugend von heute über die Religion zeigen sie enorme Wissenslücken und auch die Unwilligkeit, sich mit mehr als ihrem Konsum und ihrem Liebesleben zu beschäftigen. Ob sie glücklich sind, glaube ich nicht, sonst würden die Filme, die sie anschauen, einen anderen Inhalt haben. Oder auch ihre Musik müsste anders strukturiert sein. Das ist aber ihre Sache.

Wie stark die Kirchen als gesellschaftliche Stütze verblasst sind, sehe ich deutlich in der Corona-Pandemie, wo sie die obligatorische Maske auch über die Augen ziehen. Willig reihen sich die Kardinäle und Bischöfe in die Reihe der bürgerlichen Politiker ein und übernehmen willig deren teils absurden Aussagen. So tief sind sie gesunken, dass sie einen Kniefall vor dem bürgerlichen Staat machen. Die ersten Christen im römischen Reich waren ganz anders eingestellt und waren auch oppositionell, wenn es darauf ankam. Das gibt es heute nicht mehr. Eine Religion mit solchen Anhängern und Geistlichen hat natürlich keine Zukunft.

Ich glaube, den Verantwortlichen in den Kirchen fehlt der Hauch der Ewigkeit. Sie sollten auch mal durch das Fensterchen in der alten Kapelle ein deutliches Hallo rufen und in ihren Herzen die Antwort hören.