Strukturen

Wie man mathematisch denkt, kann ich an einem Beispiel demonstrieren. Es soll die Ableitung von sin x gebildet werden. Das geht nach dem Schema einer Steigungsberechnung vor sich, das schon in der 9. Klasse gelehrt wird. Allerdings werden hier nur Differenzen der y- und x-Achse ins Verhältnis zueinander gesetzt, profan gesprochen dividiert. In der höheren Mathematik hingegen werden Variablen benutzt. Man geht weg von der reinen Arithmetik. Um die Ableitung einer Sinusfunktion bilden zu können, braucht man eine bestimmte trigonometrische Formel, algebraische Regeln und den Limes für einen bestimmten Sinusausdruck. Das will ich nicht im Detail erläutern. Was ich ausdrücken will, ist, welche Denkweise hinter der höheren Mathematik steckt. Man hat eine Aufgabe und versucht sie mittels vorgegebener Methoden richtig zu lösen. Die Kreativität eines Mathematikers besteht nun darin, die geeigneten Theoreme (Sätze) herauszusuchen und sie systematisch logisch korrekt in vorgegebene Formeln einzusetzen. Der Denkvorgang ist evolutionär. Man fängt bei einfachen Strukturen an und verkompliziert sie schrittweise. Dazu benötigen Mathematiker ein gutes optisches Gedächtnis. Sie müssen sich die mathematischen Strukturen wie ein Kunstwerk vorstellen, nur ohne Farbe. In einer Sprache gibt es auch Strukturen, die Grammatik und Lexik genannt werden, jedoch sind mathematische Strukturen unanschaulicher und auch unübersichtlicher. Man kann sie nicht wie einen Text lesen, sondern muss sich vorstellen, welche Zusammenhänge vorliegen und welche Gedankenschritte den jeweiligen Formeln zugrunde liegen. Wenn man in einer Sprache die Grammatik intus hat, braucht man sich nur noch um die Erweiterung des Wortschatzes zu kümmern. In der Mathematik habe ich noch keine Grenze der Erkenntnis gesehen. Das meiste ist mir unbekannt. Ich kann aber nicht diejenigen verstehen, die sich einander überbieten, dass sie Mathematik nicht mögen und nicht können. Und es war immer irgendein Lehrer an dem eigenen Unvermögen schuld. Die Schulmathematik ist eine reine Übungssache. Man braucht sich nur die Lösungswege einzuprägen. Dazu gibt es auch entsprechende Bücher. Wer sich damit nicht begnügen will, der schaut in die Tiefen der höheren Mathematik und wird zu neuen Erkenntnissen gelangen. Sie erstaunen mich immer wieder.