Das Wort Mathematik haben die alten Griechen entwickelt. Sie leben noch heute am Mittelmeer, wo ihr vielleicht schon öfters Urlaub gemacht habt. Sie haben die mathematischen Grundlagen für Europa gelegt. Allerdings basierte ihre Erkenntnisse auch auf den Vorleistungen der alten Ägypter und Babylonier. Neu waren die systematische Darstellung und die Beweisverfahren mathematischer Sätze. Nichts sollte mehr geglaubt oder nur nachgeahmt werden, sondern logisch abgeleitet werden aus bereits bestehenden Axiomen („Grundannahmen“) und Theoremen („Lehrsätze“). Die Griechen interessierten sich für das Warum. Das war ein Meilenstein in der Menschheitsentwicklung.
Das griechische Wort Mathematik bedeutet „lernen“, nämlich lernen, mit Zahlen und Buchstaben umzugehen, mit Formeln und Zeichnungen umzugehen und Rechenwege zu finden und anzuwenden. In Deutschland wurde die Mathematik erst im 16. Jahrhundert so richtig unters Volk gebracht und zwar durch den berühmten Rechenmeister Adam Ries, der im Volksmund Riese heißt. Er schrieb ein Lehrbuch mit dem Namen „Rechenung auff der linihen und federn...“ (Rechnung auf der Linien und Federn [Des12]) Dadurch trug er auch zur Ausbildung und Vereinheitlichung der deutschen Sprache bei, denn vor ihm schrieben die Gelehrten nur auf Lateinisch, was keiner verstand außer der Elite. Ein Mathematiker, der die deutsche Sprache prägte, das ist schon eine Glanzleistung. Sein Buch wurde 120 Mal aufgelegt, eine gewaltige Leistung.
Ries war noch wichtiger als Martin Luther, der das Neue Testament ins Deutsche übertragen hatte. Während der Mathematiker Ries die Grundlagen der modernen Gesellschaft legte, predigte Luther eine bestimmte Heilslehre, die anders als in der Mathematik geglaubt werden musste, um wahr zu sein. Das Schöne an der Mathematik ist, dass jeder sie braucht, unabhängig von einer religiösen Heilslehre. Die Mathematik wird auch noch in 1000 Jahren genauso wahr sein wie heute - ganz im Gegensatz zu den Aussagen der Gläubigen, deren Glaubensgebäude irgendwann immer untergegangen sind.
Adam Ries, deutscher Rechenmeister (1492/93 - 1559) (Quelle: Frakturfreund)
Adam Ries übernahm die indischen Zahlen und die Schreibung in Stellen, also Einer, Zehner, Hunderter, Tausender usw.. Vorher wurden nur die umständlichen römischen Zahlen mit den Strichen I, V, X, M genommen. Hier gab es nicht einmal die Ziffer 0, die so wichtig ist. Die indischen Zahlen wurden durch die Araber nach Europa gebracht. Deshalb sind sie heute als arabische Zahlen bekannt, was aber so nicht richtig ist.
Adam Ries war ein Rechenmeister. Sein Anliegen war das praktische Rechnen, das man in der Schule und den Anfangsklassen der weiterführenden Schulen lernt. Er beschäftigte sich nicht mit der höheren Mathematik in der heutigen Ausprägung mit den vielen Formeln und Zeichen. Die wurden erst nach ihm erfunden. Er wollte seinen Schülern beibringen, wie man Maße und Gewichte umrechnet, Mischungsverhältnisse erstellt, Preise berechnet, Gewinn und Verlust berechnet. Sein Buch ist sehr textlastig und nicht einfach zu verstehen, aber es war sehr nützlich.
Wir sind seine geistigen Erben. Als Grundschüler beginnen wir mit dem praktischen Rechnen. In meinem Buch gehe ich weit darüber hin. Dabei erkläre ich die Bedeutung der vielen mathematischen Begriffe, ihren sprachlichen Ursprung und vor allem den Gebrauch der Zahlen und die Rechenwege. Mathematik zu betreiben bedeutet auch, fremde Begriffe zu lernen und sie richtig anzuwenden. Oftmals gibt es für sie keine entsprechenden deutschen Wörter. Um gut rechnen zu können, muss man viel und ausdauernd üben. Das Gehirn muss trainiert werden.
Zur Einstimmung erzähle ich euch eine schöne Geschichte.
Vor langer Zeit, als ich noch jung war, ereigneten sich wundersame Dinge, die in meinem Gedächtnis geblieben sind, die ich immer in mir trage. Wenn ich schlafen gehe, erscheinen mir diese Bilder meiner fernen Reise, einer wunderschönen Reise in eine Welt der Vorstellung, der bunten Formen, Linien, Punkte und Verzweigungen. Grell erscheinen die Muster von geheimnisvollen Zeichen, die zuvor noch niemals gesehen hatte. Da sah ich kleine und große gewundene Symbole einer exotischen Welt, ganz verschieden von dem, was ich vor dem gekannt hatte. Ich entdeckte die Kulturen alter, längst im Dunkel der Geschichte verschwundener Völker, deren steinerne Zeugnisse uns Heutigen noch einen großartigen Einblick in ihre Gedankenwelt geben, die uns staunen lassen über ihre kühnen Gedanken, ihre außergewöhnlichen Leistungen in der Wissenschaft und Technik. Auch wurde ich reichlich beschenkt von den freundlichen Einwohnern dieser verschollen geglaubten Kulturen, die ein offenes Herz für meine Fragen hatten und deren Weise mich mitnahmen in die Welt der Zahlen und Formeln, jener unergründlichen Sprache, die so viel ausdrückt. Ja, das war eine beglückende Reise in die Vergangenheit, so angenehm, dass ich gar nicht mehr in die Gegenwart zurückkehren wollte.
Doch der alte Aristoteles klopfte mir auf die Schulter und sprach in seiner ruhigen und überzeugende Art: „Fremder Freund, gehe nach Norden ins kalte Land und nimm alles das mit, was ich dich gelehrt habe, denn die Zahlen sind heilig. Denke an die Unendlichkeit und schreibe in deiner Sprache auf, was das Unendliche ist.” Dann gab er mir die Hand, umarmte mich und ging zu dem Kreis seiner Schüler zurück. Ich weinte vor Glück und Abschiedsschmerz, behielt die Worte dieses großen Geistes der Menschheit in meinem Herzen und machte mich auf den Weg zurück in die Heimat.
Das ist nun die Geschichte über meinen Aufenthalt in der mathematischen Welt, über jenen weißen Flecken auf der Landkarte, über den ich schreiben werde, ein Reisebericht für diejenigen, die träumen und genießen wollen.