Motivation

„Als etwa um 300 v. Chr. der größte Geometriker Griechenlands, Euklid, in Alexandrien von seinem König Ptolemaeus Philadelphus nach einer ’bequemen’ Unterrichtsmethode der Mathematik gefragt wurde, erwiderte er kühn: ’Zur Mathematik führt kein Königsweg.”’ [Col42, Vorwort, Seite 10]

 

Die Welt der Mathematik hat mich immer wieder in Erstaunen versetzt, vor allem bewundere ich die Menschen, die mühelos die abstrakten Ideen schnell begreifen und damit gut umgehen können wie der jüdische Physiker Richard Feynman (1918-1988) aus den USA, der mühelos schwierige Gleichungen im Kopf umformen konnte.

 

Nun neigt sich mein Berufsleben langsam dem Ende entgegen, und ich kann auf ein erfahrungsreiches Leben mit persönlichen Höhen und Tiefen zurückschauen. Ich kann innehalten und über mein Arbeitsleben reflektieren.

 

Ich hatte als IT-Anwendungsentwickler gearbeitet und so manche Programme geschrieben, die die tägliche Arbeit im Unternehmen erleichterten. Dabei ging es um bestimmte Strukturen, nämlich Daten von einem Zustand in einen Zustand umzusetzen, also Daten aufzubereiten für Listen, Statistiken, zum Import in den Großrechner, Selektion und Verarbeitung von Kundendaten für die verschiedensten Zwecke. Komplizierte mathematische Denkmodelle wie während meines Studiums der Volkswirtschaftlehre brauche ich da nicht, vielmehr war ich damit beschäftigt, für bestimmte Aufgabenstellungen EDV-Lösungen zu erarbeiten und umzusetzen.

 

Eines Tages habe ich mir gesagt, das kann doch nicht alles sein. Ich wollte mehr über das Denken in Logik und Strukturen erfahren und das bot mir die höhere Mathematik, in der ich mich kontinuierlich vertiefte. Schnell bemerkte ich, dass das Rechnen mit Zahlen nicht das Wesen der Mathematik ist, was mir bei meinem kurzen Gasthörerstudium (mit 58 Jahren!) aufgefallen war. Da steckt mehr dahinter.

 

Meine Erkenntnis führte mich dazu, das im Ansatz falsche Denken über die Mathematik als einer Wissenschaft von den Zahlen und des bloßen Rechnens zurecht zu rücken und dem Leser über den Sinn und die Essence der Mathematik aufklären, was in der Schule so überhaupt nicht vermittelt wird. Das ist mein Leitspruch geworden:

 

„Eine richtige Denkweise wird zu richtigen Erkenntnissen und Lösungen führen.“

 

Doch zuerst ein Warnung an jene, die die Mathematik wie eine Fremd-Sprache betrachten und glauben, sie in kurzer Zeit erlernen zu können, indem sie nur ihr Gedächtnis anstrengen und einige immer wieder kehrende grammatische Regeln anwenden.

 

Das ist nicht der Fall!

 

Die sogenannten Savants, die mit erstaunlichen Gedächtnisleistungen vielstellige Zahlen multiplizieren, radizieren oder sonstige wirklich beeindruckende Kunststücke vorführen können, sind noch lange keine Mathematiker, denn, was sie dem Publikum präsentieren, erstaunt sehr, gehört zur Arithmetik, ist aber noch keine echte Mathematik. Man muss sich von dem Vorurteil befreien, die Mathematik wäre nur eine geschickte Rechnerei. Was sie wirklich ist, stelle ich in diesem Buch dar.

 

Die höhere Mathematik stellt eine echte Herausforderung an das Denken und erfordert viel Disziplin und vor allem das Ertragen von Frustration. Auch die großen Mathematiker haben einmal klein angefangen, was sie auszeichnet, ist, dass sie sich von Rückschlägen, Denkblockaden und teilweisem Unverständnis bestimmter mathematischer Sätze nicht davon abbringen ließen, weiter zu machen und durchzuhalten.

 

Auch beim Programmieren habe ich immer wieder die Erfahrung von Frustration gemacht, wenn ein Programm nicht so arbeitete, wie es sollte, obwohl es eigentlich richtig programmiert war. Aber irgendwo musste doch eine Denkfalle oder eine nicht berücksichtigte Konstellation sein, die zu einem anderen Ergebnis führte, als ich dies angedacht hatte. Ich war hartnäckig und suchte nach der Ursache, denn wer aufgibt, wird gewiss scheitern. Ich habe gelernt, am Thema dran zu bleiben und trotz mancher Rückschläge neue Lösungsansätze zu finden und die meist kleinen, aber doch ärgerlichen Unschärfen, oder anders ausgedrückt, undefinierte Zustände im Programm zu lokalisieren und zu beheben. Wer das nicht tut, hat den Beruf verfehlt.

 

Diese Beharrlichkeit braucht man auch für die höhere Mathematik, wo es allerdings, wie schon erwähnt, nicht so sehr auf Rechenvorgänge ankommt, die jedoch nicht vernachlässigt werden dürfen, sondern um analytische Fähigkeiten aufgrund vorgegebener Definitionen und Sätze fortzuschreiten zu neuen Erkenntnissen.

 

Ingenieure wollen mit Formeln und Rechenverfahren hantieren, denn sie müssen von Berufs wegen damit umgehen, Mathematiker hingegen interessieren sich für die mathematischen Grundlagen und erarbeiten dann Algorithmen, also bestimmte Rechenverfahren. Der Reiz der höheren Mathematik liegt gerade in seiner für Außenstehende große Abstraktheit und Theorie.

 

Ich habe von vielen gehört, die auf die Theoretiker schimpfen, aber selbst von deren Leistungen profitieren, eine schizoide Einstellung.

 

Die Begeisterung Einzelner an der Mathematik wird von vielen nicht geteilt, doch werden mathematische Leistungen im Allgemeinen gewürdigt. Wer ernsthaft an der höheren Mathematik interessiert ist, sollte sich nicht von seinem Wunsch abbringen lassen, weder durch abfällige Bemerkungen anderer über die Mathematik, durch selbst erlebte Frustrationen in der Schule oder durch die Aussicht, frühzeitig einen Beruf zu ergreifen und schnell Geld zu verdienen.


„Für mich hingegen (wie die meisten) war das Studium immer wieder eine arge Plackerei mit vielen Misserfolgserlebnissen und endloser Arbeitszeit. Ich musste all die Mathebücher Mini-Schritt für Mini-Schritt durcharbeiten [...] was ich in der Form getan habe, dass ich andauernd in die Bücher Zettelchen mit fehlenden Erklärungen eingeklebt habe, so dass die Bücher hinterher mehr als doppelt so dick wie anfangs waren und an den Buchrücken schon auseinander brachen; oftmals musste ich also stunden-, wenn nicht gar tagelang ‚rumprobieren‘, bis ich die ‚missing links‘ in nur drei Zeilen eines Buchs ergänzen konnte [...] Und auch ich war mehrfach versucht, den ganzen Krempel hinzuwerfen und das Studienfach zu wechseln [...] Mir hat insgesamt die Mathematik dennoch Spaß gemacht.“ (Stauff, 2008, Tunnelblick)

 

Um als Mathematik-Student Erfolg zu haben, braucht man also einen langen Atem. Das Studium fordert einen heraus. Es wird einem nichts geschenkt. Es ist eine echte Herausforderung an den eigenen Willen und an die Psyche. Theoretische Konstrukte kann man erst durchschauen, wenn man alle störenden Einflüsse von außen und vor allem von innen angeht. Besonders das Unbewusste will weg von dem Unbekannten und Unverstandenen, das so gar nichts mit der täglichen Erlebniswelt zu tun hat.


Da haben es Studenten anderer Fakultäten einfacher, die sich mit Themen beschäftigen, die im halbwegs bekannten Erlebnisrahmen liegen.


In der Mathematik ist das ganz anders. Sie ist total ungewohnt und entzieht sich oft der Anschaulichkeit. Was mich allerdings anfangs so gestört hat, ist die „Sprachlosigkeit“ der Mathematiker. Sie denken in bestimmten Strukturen und formulieren sie derart knapp, dass Außenstehende nichts verstehen. Als großen Mangel habe ich empfunden, dass die meisten Mathematikbücher ebenfalls in dieser Art und Weise geschrieben sind. Aus diesem Mangel habe ich den Schluss gezogen, selbst tätig zu werden und ein Mathematikbuch zu schreiben, das ich erstens selbst verstehe :-) und das zweitens auch von anderen verstanden wird, die sich tiefer mit der Mathematik auseinandersetzen möchten und zu neuen Erkenntnissen gelangen möchten.

 

Sich mit der Mathematik zu beschäftigen bedeutet auch, sich mit sich selbst zu beschäftigen und zur inneren Ruhe zu gelangen und sich in fremde Strukturen einzuarbeiten, die auch für die Praxis enorme Vorteile haben. Die mathematische Denkweise kann man ja auch bei anderen Aufgaben im täglichen Leben oder dem Beruf nutzen.


Wer Probleme hat, sich zu konzentrieren oder wer trotz seiner Absicht, beim Thema zu bleiben, doch gerne etwas Anderes tun möchte, wer lieber Musik hören möchte, ausgehen möchte oder andere Zerstreuungen suchen möchte, kurz gesagt, wessen Innenleben aufgewühlt ist und zur Zerstreuung tendiert, wird kaum die höhere Mathematik begreifen. Sie wird für ihn immer ein Schreckgespenst bleiben, über das man gut in Gesellschaft lästern kann, weil man Gleichgesinnte gefunden hat. Für die Mathematik braucht man einen klaren, ungetrübten Blick und viel Ausdauer.


Bei den einen kommen die mathematischen Fähigkeiten früher, bei den anderen später. Niemand ist zu „alt“, sich mit der Mathematik zu beschäftigen. Bei mir hat die Lust auf die höhere Mathematik mit fünfzig Jahren eingesetzt. Da hatte mich der Ehrgeiz gepackt, es zu versuchen und in dieses schöne Gebiet der Wissenschaft einzusteigen und die Schönheit der mathematischen Strukturen und Denkweisen zu erleben.


„Per aspera ad astra“ (Durch die rauhen Dinge zu den Sternen), sagten die alten Römer.


Die höhere Mathematik lässt sich am besten anhand bestimmter Anwendungen, die jeder kennt, irgendwie davon gehört hat oder davon betroffen ist, erklären und veranschaulichen. Ich möchte den Bogen schlagen zwischen der mathematischen Sprache und der normalen Alltagssprache, die sich von der ersteren oft unterscheidet, sehr vage, ungenau, überladen mit allerlei grammatischen Erscheinungen ist. Außerdem werde ich klar machen, dass man bestimmte Sachverhalte zwar mathematisch darstellen kann, aber bestimmte damit dargestellte ökonomische Theorien keinen großen Nähr- und Erkenntniswert haben, nur in ein bestimmtes ideologisches Denkschema passen. Auch vergesse ich nicht die ethischen Hintergründe der Anwendung der praktischen Mathematik zu beleuchten. Es ist ja keinesfalls so, dass alle mathematisch dargestellten Theorien wertfrei sind, losgelöst von einer ethischen Bewertung sind. Wer solches behauptet, hat nicht genügend lange nachgedacht oder ist selber ein Ideologe und merkt es nicht.

 

Ein Autor kann trocken und einschläfernd schreiben wie so viele Professoren oder mit dem Pinsel eines Landschaftsmalers einzelne Themen darstellen, sie plastisch darstellen und farblich herausstellen, so dass der Stoff spannend, anschaulich ist und zum Weiterlesen anregt und im Gedächtnis hängen bleibt.

 

Wenn ihr mit mir auf die mathematische Entdeckungsreise gehen möchten, stellt euch auf eine schwierige und vor allem langwierige Strecke ein.

 

Der österreichische Schriftsteller Egmont Colerus hatte mich wegen seiner gut verständlichen mathematischen Sprache beeindruckt. Seine drei Mathematikbücher sind immer noch lesenswert:

 

• 1934 Vom Einmaleins zum Integral

• 1935 Vom Punkt zur vierten Dimension

• 1937 Von Pythagoras bis Hilbert

 

Ich habe sie verschlungen und gewünscht, alle Mathematikbücher wären genauso.

 

“Die Mathematik ist eine Mausefalle. Wer einmal in dieser Falle gefangen sitzt, findet selten den Ausgang, der zurück in seinen vormathematischen Seelenzustand leitet. Es würde zu weit führen, den Grund dieser typischen Erscheinung bloßzulegen. Wir wollen uns daher mit der Feststellung ihrer Folgen befassen. Die erste Folge der ’Mausefallen-Eigenschaft’ der Mathematik ist ein großer Mangel an mathematischen Pädagogen. Nur sehr selten trifft mathematisches Können und leicht faßliche Darstellung zusammen. Dadurch ergibt sich als zweite Folge der ’mathematische Minderwertigkeitskomplex’ breiter Schichten Gebildeter und Bildungsfreundlicher.” [Col 1942, Vorwort, Seite 9]

 

Mit meinem Buch möchte ich dreierlei erreichen:

 

Erstens möchte ich mit diesem Buch unterhalten und eine Menge Spaß vermitteln. Das soll es beim Lesen und Lernen von Mathematik ja auch geben. Es ist ein persönliches Buch, geschrieben für wissbegierige Erwachsene, die glauben, etwas verpasst zu haben, weil sie in der Schule nicht aufgepasst hatten. Natürlich ist es auch für die zukünftige mathematische Elite unseres Volkes geeignet.

 

Zweitens möchte ich die Mathematik so darstellen, dass sie intelligente und hartnäckige Menschen verstehen können. Schnellleser, geistige Dünnbrettbohrer und gewiefte Rhetoriker mit gut trainierter Zunge stehen nicht im Focus dieses Buches. Dafür gibt eine jederzeit vorrätige belletristische Literatur in den Buchhandlungen, wo man sich gut bedienen kann. Höhere Mathematik ist nun mal trocken, nüchtern und ermüdend, mit einem Wort schrecklich.

 

Und drittens - ehe ich es vergesse - soll das Buch auch nützlich sein, nicht nur für das Studium der Mathematik, nein, auch fürs Leben. Letzteres verwundert auf den ersten Blick, aber wie das manchmal im Leben so ist, die Liebe auf dem zweiten Blick hält länger. Vorerst sollte der neugierige Leser die Sache lernen fürs Leben im Hinterkopf behalten. Nach dem Zuklappen des letzten Kapitels wird er es nachvollziehen und das mit einem lauten „Ja“, verbunden mit einem starken Kopfnicken, bestätigen. Oder auch nicht - dann hat er aber nicht aufgepasst, Rechnen wird er jedenfalls lernen, auch wenn er den ganzen Theoriekram weg lässt, was ich nicht hoffe. In einem alten Mathematikbuch fand ich folgenden Trost:

 

„Mathematik galt bisher als eine ’Geheimwissenschaft’, aber ganz zu Unrecht! Zum Rechnen ist durchaus keine besondere Veranlagung, kein besonderes ’Talent’ nötig, wie etwa zur ausübenden Musik. Zum Rechnen gehört: Gesunder Menschenverstand und - Charakter! und zwar: Liebe zur Sorgfalt und Genauigkeit, Freude an stiller, fleißiger Arbeit, Zähigkeit und Energie. - Die kann jeder, wenigstens zeitweise, einschalten, und dann - kann er rechnen.” [Rod 1942a, 1. Band, Vorwort zur 6. Auflage]

 

Viertens ist eigentlich überflüssig, weil es persönlich ist. Warum sollte ich mein Wissen, das ich im Laufe meines unbedeutenden Lebens angesammelt habe, mit ins Grab nehmen? Die Würmer und Maden unter der Erde lernen ja nichts dazu, wenn sie an meiner Leiche knabbern. Es bleibt den Überlebenden oben vorbehalten, was sie mit meinen Erkenntnissen machen.

 

Ob diese drei Ziele jemals erreicht werden, wird sich zeigen, denn ein Lehrbuch ist immer eine heikle Sache, weil mit Arbeit verbunden, nicht nur für den Schreiber, auch der Leser muss arbeiten, an sich selbst, vor allem an seiner Faulheit.

 

Das Zauberwort der Mathematik heißt nicht „bitte“, wie das häufig junge Mütter ihren Kindern beibringen wollen, sondern Arbeit, denn Arbeit hält nicht nur vital, sie schützt auch vor Arteriosklerose, besonders des Gehirns, das man unbedingt für die höhere Mathematik braucht. Um dumm zu bleiben, muss man eben nicht viel (dazu) tun. Sport, Fernsehschauen, Reisen und Vergnügungen bringen sofortigen Genuss, etwas was die Mathematik nicht versprechen kann, dafür bietet sie aber den nachhaltigeren Kick, ohne unter das Betäubungsmittelgesetz zu fallen.

 

Bei den einen kommen die mathematischen Fähigkeiten früher, bei den anderen später. Niemand ist zu alt, sich mit der Mathematik zu beschäftigen.

 

Na, neugierig geworden? Probiert es aus! In diesem Sinne wünsche ich euch viel Spaß beim Lesen und Erarbeiten dieses Buches. Ehe ich es vergesse, noch eine Lebenserkenntnis:

 

Der Mathematiker hat eine ethische Verantwortung, auch aufgrund ihrer umfassenden Ausbildung in Denkweisen, die elementar philosophischer Natur sind und jeden Menschen tangieren. Nicht von ungefähr ist der Begriff des Unendlichen der Zentralbegriff in jeder Religion.

 

„Die Gesamtheit von Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die Mathematiker während ihres Studiums erwerben, eröffnet ihnen beste berufliche Perspektiven. Einsatzfelder sind zum Beispiel:

 

Industrielle Forschungs- und Entwicklungsabteilungen

Technologiezentren und High-Tech-Firmen

Computer- und Softwarefirmen

Versicherungen, Banken und Sparkassen

Internetfirmen und Finanzdienstleistern

Hochschuleinrichtungen / Forschungsinstitute u.a.“ [TUC 2015]