Viele antworten auf die Frage, was Mathematik eigentlich ist, „Rechnen“. Das ist aber nur sehr eingeschränkt richtig. Bei der Mathematik geht es um viel mehr.
„Mathematik [zu griechisch mathematike (techne), von mathema 'das Gelernte'] (ist) eine der ältesten Wissenschaften [...] Der Aufgabenbereich der Mathematik wurde mit der Abstrahierung von der ursprünglichen Bedeutung der untersuchten Objekte wesentlich erweitert und führte zu einer 'Wissenschaft von den formalen Systemen'. (D. Hilbert)”
[Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, 2007]
In dieser Definition ist nichts von Rechnen zu lesen, vielmehr wird die Mathematik als eine Wissenschaft von den formalen Systemen bezeichnet, eine für Außenstehende ziemlich befremdliche Anschauung, die so rein gar nichts mit dem in der Schule erworbenen Wissen über Mathematik zu tun hat und abseits der täglichen Anschaulichkeit liegt. Es gibt eine ganze Reihe von Definitionen der Mathematik, doch diese hat mir am besten eingeleuchtet. Sie zeigt deutlich, dass die Mathematik eine Geisteswissenschaft ist, keinesfalls zu den Naturwissenschaften zählt, obwohl sie oft in den Universitäten in die naturwissenschaftliche Fakultät platziert wird. Richtig wäre es, sie in der Philosophischen Fakultät anzusiedeln, was bei manchen Studenten dieser Fakultät vielleicht zu einem leichten Grausen führen könnte, doch hat die Mathematik etwas mit einem Erkenntnisprozess zu tun, der nicht auf empirisch überprüfbaren Experimenten beruht, sondern sie geht von bestimmten Axiomen („einleuchtende Grundannahmen und –aussagen“) aus und baut darauf ein imposantes System von Theoremen („mathematische Sätze“) auf, die man gut für den Alltag und die Wissenschaften gebrauchen kann.
Das ist das Interessante an der Mathematik, dass man mit ihr Phänomene der erkennbaren Welt in bestimmte Relationen („Beziehungen“, „Zuordnungen“) setzen und quantifizieren kann, so dass aus bekannten Tatsachen auf andere, unbekannte Tatsachen geschlossen werden kann. Aus einem bekannten kleinen Universum kann man auf die Struktur eines anderen Universums schließen, sofern man die dazu notwendigen Regeln korrekt anwendet.
Jetzt stelle ich eine nette, spaßige Definition der Mackematick vor:
„Die Mackematick ist die Kunst, mit Zahlen und Formeln die Schulkinder zu verwirren. Wer diese Kunst auf die Spitze treibt, wird ein Stein [Albert Einstein] und verwirrt damit auch noch hundert Jahre nach seinem Tod sogar Erwachsene durch eine Relativitätstheorie. [...] Solange man noch Eins und Eins zusammenzählen kann, ist noch keine Mackematick nötig. Aber sobald die Zwei ins Spiel kommt, wird’s bösartig: Dann braucht man nämlich eine Theorie, woher diese Zahl kommt und was aus ihr wird (siehe auch Zahlentheorie). Darüber kommt man so ins Grübeln, dass man zu keinen sinnvollen Tätigkeiten mehr brauchbar ist. Der Mediziner spricht dabei von einer Macke. Die Mackematick ist nicht heilbar und hat eine Temperatur von 1 Grad.” [Stu14]
Oder etwas moderater formuliert:
„Als Mathematik bezeichnet man ein Relikt des menschlichen Geistes aus der weltgeschichtlichen Antike. Bei der Mathematik im engeren Sinne handelt es sich um eine Form der Abstrakten Kunst, die sich mit Zahlen und Zeichen sowie deren sinnloser, jedoch manchmal ästhetisch durchaus gelungener Aneinanderreihung befasst.“ [Stu12a]
Nun sind wir also aufgeklärt über die Mathe und den Tick.
Im Allgemeinen wird die Mathematik als reine Arithmetik und eine Methode angesehen, bestimmte Formeln auszurechnen. Dieses Denken ist das Ergebnis einer veralteten Mathematik-Didaktik. Die allermeisten Eltern sind auch dieser Ansicht. Sie wissen es nicht besser. In meinem Mathematikbuch kämpfe ich dagegen an. An der Universität wird die Mathematik so gelehrt, wie es ihrem Anspruch entspricht und so dargestellt, was sie von ihrem Wesen her eigentlich ist.
„Um Mathematik zu studieren, braucht man kein Rechenkünstler oder Computer-Ass zu sein. Studierende der Mathematik sollten aber zu Beginn des Studiums den Spaß und das Interesse an der Mathematik und die Fähigkeit zum abstrakten Denken mitbringen. Es ist dabei lediglich eine gewisse spezifische Begabung nötig, die allerdings mit der Fähigkeit gepaart sein sollte, ausdauernd und konzentriert arbeiten zu können. Auch ein gutes geometrisches Vorstellungsvermögen ist sicherlich von Nutzen. Im Verlauf des Studiums wird ein zunehmendes Maß an Abstraktion erlangt. Zum Ende des Studiums sollten Studierende in der Lage sein, Probleme zu erkennen, zu analysieren, in klarer und übersichtlicher Form niederzuschreiben und darüber mit anderen zu kommunizieren.” [Hei12]
Die Mathematik wurde von den alten Römern in der Weise behandelt, wie es von der heutigen Bevölkerungsmehrheit auch geteilt wird, nämlich als eine praktische Zahlenrechenmethode. Deshalb hatten sie keinen Beitrag zum Fortschritt der mathematischen Erkenntnis geleistet.
„Im Jahre 44 v. Chr. beklagte sich Marcus Tullius Cicero in seinen Tuskulanischen Gesprächen über den Verfall der Kultur zu seiner Zeit. Er verweist auf die Griechen insbesondere auf deren Verhältnis zur Mathematik: 'Höchster Wertschätzung erfreute sich bei ihnen auch die Geometrie, und deshalb war niemand angesehener als die Mathematiker; wir aber haben den Geltungsbereich dieser Wissenschaft auf den Nutzen beschränkt, den sie uns beim Messen und Rechnen bringt.'” [Ham12]
Die alten Römer waren nicht an exakten Beweisen in mathematischen Fragen interessiert, obwohl sie technische Großprojekte (Aquädukte und Viadukte oder Arenen) realisierten oder für das Kriegswesen Katapulte und Seilkräne gebrauchten. Das setzte mathematische Kenntnisse voraus, die sie bei Bedarf von den alten Griechen borgten. In der mathematischen Theorie waren sie schnell mit ihrem Latein am Ende.
Sich mit der höheren Mathematik zu beschäftigen, und sei es auf einem kleinen Gebiet, ist die Beschäftigung mit einer hervorragenden Quelle der Erkenntnis von Strukturen. Wer mathematisch denkt, wird differenzierte Fragen stellen und sich nicht mit simplen Antworten begnügen und er wird nachhaken, was wäre, wenn dies und jenes nicht definiert ist. Er würde bei Streitfragen nach den Definitionen der verwendeten Begriffe fragen und nicht auf dumme Propaganda hereinfallen, die auf schön klingende Parolen mit mehr oder weniger konkret definiertem Inhalt, ggf. mit menschenverachtenden Aussagen hören.
Sich nur auf das Praktische und Funktionale zu beschränken, macht noch keine Kultur aus. Ich wünschte mir eine Breitenwirkung der strukturellen mathematischen Erkenntnisse, besonders beim Begriff der Unendlichkeit und den Grenzwerten und den Theorien, die damit zu tun haben.
Auf die Frage, wie man Mathematiker wird, werden vielfältige Antworten gegeben, die eher individuell motiviert sind als dass sie auf wissenschaftlich fundierten Aussagen beruhen. Grundsätzlich kann man sagen, dass das mathematische Verständnis angeboren ist.
„Babies kommen mit einem erstaunlich guten Gefühl für Zahlen zur Welt. Schon direkt nach der Geburt können sie zwischen zwei und drei Objekten unterscheiden. Ihre Fähigkeiten entwickeln sich rasant und ab dem Alter von sechs Monaten verstehen sie sich - unsichtbar für uns, aber in zahlreichen Versuchen erwiesen - bereits auf erste Rechenoperationen und sind bedingt zu Addition und Subtraktion fähig. Ein Kind von sechs Monaten ist dabei noch ziemlich ungenau, aber bereits mit neun Monaten erkennt es Unterschiede zwischen zwölf und 16 Objekten.” [ZDF05]
Die Resultate dieser Untersuchung sind sehr erstaunlich, beweisen sie doch, dass die Mathematik keineswegs ein Buch mit sieben Siegeln zu sein braucht. Diese optimistisch stimmende Ansicht vertritt der Gehirnforscher und Mathematiker Stanislas Dehaene, indem er sagt:
„Denn grundsätzlich kann jeder Mathematik erlernen, es sei denn, der Zahlensinn ist gestört - dieses Phänomen wird Dyskalkulie [Rechenschwäche] genannt.” [ZDF05]
Dass die Prozentrechnung und der Dreisatz im täglichen Leben eine wichtige Rolle spielen, ist unbestritten. Sie sind in der Mathematik jedoch nur ein winziger Aspekt und fallen in den Bereich einfacher Teilordnungen nach dem Schema, teile etwas durch die Gesamtheit und multipliziere den Bruch mit 100 Prozent bedeutet lateinisch pro = für und centum = 100.
Der Dreisatz ist eine einfache lineare Funktion nach dem Schema: ordne einer Ausgangsgröße einer bestimmten Wirkgröße zu, beschreibe also einen sachlichen Zusammenhang zwischen einem Definitionsbereich und einem Wertebereich über eine Funktion (Zuordnung), also frei nach dem beliebten Aufgaben: Ein Arbeiter schafft so viel in einer Stunde, wie viel schaffen drei Arbeiter? Hier gibt es einen funktionalen Zusammenhang, den man mit einer einfachen linearen Gleichung darstellen kann.
Mathematik bedeutet für die meisten Menschen Rechnen mit Zahlen. Alles, was darüber hinausgeht, erachten sie als überflüssig. Das ist eine Meinung, die ich jedoch nicht teile.
Es haben sich bestimmte Vorstellungen von Mathematik festgesetzt, die einen Mathematiklehrer nicht gerade erheitert. Ich demonstriere dies anhand eines Artikels eines Mathematiklehrers, der anschaulich die Schwierigkeiten und Vorurteile gegenüber der Schulmathematik so schildert:
"Ein Bäckermeister erzählte von den Schwierigkeiten mit den Auszubildenden. Das Problem seien weniger Faulheit, Desinteresse usw. (solche Leute sondere man schon in der Probezeit aus) als vielmehr miserabel schlechte Leistungen in der Berufsschule und da insbesondere im Fach Mathematik. Bei einer der derzeitigen Auszubildenden, die ansonsten ganz ‚anstellig‚ sei, fehle es schlichtweg im Gehirn an ‚Speicher‚. Woraufhin ein Kinderarzt einen draufsetzte und sagte, er habe inzwischen begonnen, vor der Einstellung von Auszubildenden eine kleine Prüfung abzuhalten. Und er sei doch letztens ziemlich entsetzt gewesen, als (immerhin) eine Realschülerin nicht mal die Prozentrechnung und den Dreisatz beherrscht habe." [Stau13a, Der Anlass]
Interessant ist, dass die Angehörigen von völlig verschiedenen Berufsgruppen unisono eine bestimmte negative Einstellung gegenüber der in der Schule vermittelten Mathematik haben. Sie beurteilen sie von ihrer praktizierten Warte aus, was natürlich für ihre Tätigkeit nützlich und notwendig ist, verfehlen aber den Anspruch und das Ziel der Wissenschaft Mathematik.
Sie interessieren nicht die eleganten und schönen Beweise, die Deduktion von allgemeinen Fälle auf Spezialfälle, die logischen Voraussetzungen und Schlussverfahren von den Axiomen und Theoremen („mathematische Sätze“), die exakte Beschreibung von Naturvorgängen, die Voraussagbarkeit aufgrund mathematischer Modelle, das Abstrahieren von komplexen Zusammenhängen auf die sie bestimmenden Komponenten.
Süffisant resümiert daher unser leidgeprüfte Mathematiker:
"Als Inbegriff von (alltäglich notwendiger) Mathematik werden da Prozentrechnung und Dreisatz angesehen." [Stau13a, ibidem]
In der Berufswelt zählen praktische Kenntnisse, die unmittelbar umsetzbar sind. Kein Arbeitgeber ist an theoretischen Erörterungen interessiert, was zählt, ist die Anwendbarkeit auf das betrieblich Erforderliche. Deshalb sind die meisten Eltern aus eigener Erfahrung wenig an einer mathematischen Theorie interessiert, die zwar schön ist, wie sie meinen, aber keinen praktischen Nutzen habe.
Diese Einstellung ist eine Motivationsbremse für die Vermittlung der höheren Mathematik, die nicht auf die unmittelbare praktische Nutzbarkeit zielt. Mathematische Erkenntnisse sind von vornherein losgelöst von einem ökonomischen Kalkül und von Profitabilität, also Kriterien, die in der freien Marktwirtschaft hoch im Kurs stehen. Gewiss sind mathematische Modelle für den praktischen Gebrauch notwendig. So kann kein Unternehmen am Markt bestehen, wenn nicht die Buchhaltung stimmt, die sehr komplex sein kann und gute Fachkräfte braucht. Auch Marktprognosen sind nicht ohne praktische mathematische Anwendungen zu schaffen.
Doch Kultur besteht aus mehr als Zahlen zusammen zu rechnen und Gewinne anzuhäufen. Wie ein Künstler das Produkt seiner Hände nach der Fertigstellung begutachtet und sich darüber freut, so ist auch die höhere Mathematik eine Kunst, die Spaß macht, die einem Kreativität gibt und innere Befriedigung. Der Weg zu neuen Erkenntnissen erschließt sich über die höhere Mathematik, die bisweilen sehr anstrengt.
„Bei der Untersuchung der Hirnleistung rechnender Menschen fanden Forscher [...] ihre Vermutung über das Arbeitsgedächtnis bestätigt. Bei allen Probanden leistete es Schwerstarbeit. Das galt besonders für jenen [Gehirn-]Bereich, der sich mit der Zwischenspeicherung räumlich-visueller Informationen beschäftigt; Hirnforscher nennen ihn den 'räumlich-visuellen Notizblock'. Dieser Befund ist insofern bemerkenswert, als Zahlen an sich keine räumlich-visuelle Qualität haben. Eine Neuronengruppe, die gewöhnlich immer dann aktiv wird, wenn wir unsere Finger bewegen, lief ebenfalls heiß. Offensichtlich hinterlässt die frühkindliche Art des Zählens und Rechnens Spuren im Gehirn: Die gleichen Neuronen, die damals beansprucht wurden, beteiligen sich auch an den Rechenleistungen der Erwachsenen. [...] Nach eigenem Bekunden strukturiert er [ein sogenannter Rechenkünstler] den Dschungel der Zahlenwelt mit Hilfe visueller Vorstellungen.” [Spe12]
Stehen zu bleiben bei praktischen Aufgaben, Anerkennung bei Leute zu erhalten, die sich in ihrem praktischen Denken bestätigt fühlen, die einen Gegensatz zwischen Theorie und Praxis konstruieren und dabei den Begriff Theorie mit einem abwertenden Tonfall belegen, mag zu einem beruflichen Erfolg führen, aber es fehlt hier doch etwas, das darüber hinausgeht, das den Kern der Kultur bildet.
Im Gegensatz zur Theologie ist es nicht notwendig, an irgendetwas zu glauben oder eine Heilslehre anzunehmen, vielmehr muss alles bewiesen werden. Mathematische Beweise sind auch in Tausenden von Jahren noch gültig und korrekt, während Glaubenssysteme schon längst untergegangen sind.
Mathematiker wird erst derjenige, der die Stringenz (Schlüssigkeit) und Schönheit der mathematischen Gedankengänge nachvollziehen und goutieren will, ohne sich dabei über die praktische Umsetzung oder die Vermarktung Sorgen zu machen.
Auch Frauen sollten sich mit der Mathematik beschäftigen.
„Die herrliche griechische Mathematikerin Hypathia, die einzige Frau, der in der Geschichte der Mathematik Rang zuerkannt wird, ist sicher nicht allein aus religiösem Fanatismus vom Pöbel gesteinigt worden.” [Col42, Vorwort, Seite 12]
Die erste Mathematikerin, die eine Professur erhielt, war die Russin Sofia Kowalewskaja (1850 - 1891).